Jaromír Mrňka
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Dissertationsvorhaben Definition des Forschungsfelds Die welthistorischen Ereignisse und die Machtverschiebungen in den Jahren 1935 bis 1955 haben den ostmitteleuropäischen Raum in hohem Maße geprägt. In der traditionellen Historiographie, die sich auf die politische Geschichte und Geschich‐ te der internationalen Beziehungen orientiert, bilden diese Ereignisse eine elemen‐ tare Hauptlinie der Erzählung. Wenn man aber den geopolitischen Änderungen für die wichtigste Bewegungskraft der historischen Entwicklung der tschechischen Länder feststellt, zwingt diese Voraussetzung zur Betonung der Wichtigkeit einzel‐ ne diskontinuierliche Brüche. Demgegenüber möchte ich diese Brüche als die kon‐ textuelle Voraussetzung der historischen Veränderungen der stetig in dieser Zeit existierende Gesellschaft, bzw. der Schicksale, Weltanschauungen, Lebens‐ und Sinnwelten der historischen Akteure betrachten. Die tschechische Gesellschaft griff spätestens seit dem Mai 1945 zu radikalen Handlungsformen an, um gesellschaftli‐ che Konflikte zu lösen und die tschechoslowakische Nachkriegsrepublik wieder zu stabilisieren, meist durch die Ausschaltung aller feindlichen und potenziell gefähr‐ lichen Elemente. Das eröffnete eine fast zehn Jahre dauernde Periode einer ethni‐ schen, politischen und sozialen Säuberung.1 Meiner Meinung nach aber war diese Situation das Ergebnis langfristiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. In die‐ sem Zusammenhang spielten die Kriegserfahrungen der Menschen die Hauptrolle.2 Die Grenzerfahrung der Gewalt war ein Katalysator für die Radikalisierung der tschechischen Gesellschaft, deren Auslöser die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und das Gefühl der gesellschaftlichen Desintegration in der zwei‐ ten Hälfte der 1930er Jahre gewesen sein könnte. Die Annahme der Prozesse der Säuberung auf allen Ebenen als einen legitimen Weg zur Stabilisierung der neu entstehenden Gesellschaft der Nachkriegstsche‐ choslowakei verweist auf ein hohes Maß der gesellschaftlichen Radikalisierung.3 Im 1
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18. Münchner Bohemisten-Treffen, 7. März 2014 — Exposé Nr. 14
Generationsspezifische Grenz‐Erfahrungen und der Prozess der Radikalisierung der tschechischen Gesellschaft 1935‐1955
Jaromír Mrňka: Generationsspezifische Grenz‐Erfahrungen
Kontext meiner Forschungen lässt sich eine Radikalisierung insbesondere am Ver‐ such ablesen, gesellschaftsimmanente Konflikte auf eine direkte, unmittelbare und in einigen Fällen auch gewaltsame Weise zu lösen. Die Radikalisierung in diesem Sinne verstehe ich aber nicht als eine Abweichung von den gesellschaftlichen Re‐ geln. Meine Hypothese ist, dass Radikalität nach dem Jahr 1945 eine legitime Handlungsnorm wurde. Zusammen mit dem breiten Konzept der gesellschaftlichen Säuberung definiert Radikalität das Forschungsfeld, auf dem es möglich ist, starke Kontinuitäten des gesellschaftlichen Wandels von der Mitte der 1930er Jahre (spä‐ testens aber ab dem Jahr 1938) bis in die Mitte der 1950er Jahre aufzudecken.4 Die Hauptforschungsfrage, die ich beantworten möchte, ist durch das Aufkommen radikaler Formen gesellschaftlichen Handelns auf der Ebene der gesellschaftsge‐ meinsamen Bilder im Rahmen der dominanten Diskurse abgegrenzt, wobei auch die Annahme dieser Diskurse als eine legitime Strategie der gesellschaftlichen Handlung von historischen Akteuren und ihre Veränderung im Kontext der macht‐ politischen und sozialökonomischen Entwicklung sehr wichtig ist. Dominante Dis‐ kurse spiegeln die individuellen oder gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse und Interessen wider, deswegen hat die Erklärung ihres Wandels eine Schlüsselbedeu‐ tung für das Verständnis der Machtwechsel, wenn sich das System der Sozialbezie‐ hungen und der gemeinsamen kulturellen Werte sehr dynamisch veränderte. Aber ich möchte meine Forschung nicht nur auf die diskursive Ebene begrenzen, son‐ dern möchte auch die gesellschaftlichen Diskurse historisieren, was nicht möglich ist, ohne die rezeptive Ebene einzuschließen. Generationen und ihre Erfahrungen – die konzeptuelle Schwerpunkte Das menschliche Handeln ist im Alltag einerseits von langfristigen Mentalitäten (Formen, Formeln und Archetypen der Handlung) abhängig, andererseits wird es von individuellen Motivationen, Bestimmungen und Erfahrungen geprägt. Welthis‐ torische Brüche und der Wechsel politischer Herrschaft zwangen die Akteure sehr oft, ihre (entweder offen oder nicht erklärten) Loyalitäten und zugleich ihre Le‐ bensstrategien, um Konstruktionen ihrer Lebensprojekte zu erfüllen, zu verwan‐ deln. Ohne diese Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Hoffnung, Erfahrung und Erwartung zu untersuchen, können wir historische Wen‐ depunkte nicht erklären, weil ohne diese alternativlosen Kategorien das gesell‐ schaftliche Handeln, und damit auch die Geschichte, undenkbar ist.5 In Anbetracht meiner Frage nach den Ursachen der Radikalisierung der tschechischen Gesell‐ schaft sind für mich meistens die Grenz‐Erfahrungen wichtig, die die Weltanschau‐ ungen der Akteure grundsätzlich verändert haben. Während in der Tschechischen Republik die Diskussionen über Zeitgeschichte größtenteils methodologisch kon‐ servativ bleiben, haben sich in den Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozia‐ 4
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Jaromír Mrňka: Generationsspezifische Grenz‐Erfahrungen
lismus und der folgenden SED‐Diktatur in der deutschen historischen Wissenschaft inspirierende methodologische Verfahren durchgesetzt. Zwar hat schon Karl Mannheim prägende historische Erfahrungen mit seinem Konzept der Generatio‐ nen erfasst, aber gerade dieses Konzept haben viele deutsche Historiker in ihren umfassenden biographischen Studien weiterentwickelt.6 Auch deswegen scheint mir das Konzept der Generationen geeignet, um das weite Spektrum der histori‐ schen Erfahrung ausarbeiten zu können. Den jüngsten Beitrag auf diesem Feld machte die britische Historikerin Mary Fulbrook mit ihrem Buch „Dissonant Lives“. Auf der Grundlage des Generations‐ konzeptes definierte sie die Generationen mit den Geburtsdaten 1900‐1914 und 1920‐1929 als die formativen für deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, wobei sie von deren gemeinsamer indirekten Kriegserfahrung ausging.7 Zunächst können wir für den tschechischen Kontext im Rahmen des Radikalisierungskonzepts eine ähnliche chronologische Begrenzung anwenden. Hypothetisch kann man sagen, die erste Generation teilt die indirekte Erfahrung des Ersten Weltkriegs, wobei sie ihre Jugend in der ersten Tschechoslowakischen Republik erlebt hat – sie waren die Zeugen ihrer Entstehung, aber auch der Enttäuschung vom Untergang dieses Projekts des Liberalismus der Zwischenkriegszeit. Die zweite Generation war von der indirekten Erfahrung der Weltwirtschaftskrise geprägt, das grundsätzliche prä‐ gende Ereignis war für sie aber das Münchens Abkommen und der Zweite Welt‐ krieg. Die beiden Generationen haben nach dem Krieg an der Erneuerung des Tschechoslowakischen Staates teilgenommen und ihre Angehörigen sind ein akti‐ ver Faktor des öffentlichen Lebens geblieben. Neben den strukturellen Bedingun‐ gen und eigenen persönlichen Erfahrungen der Akteure stellt Fulbrook auch eine weitere wichtige Frage, nämlich die nach dem Einfluss des sozialen Alters auf das unterschiedliche Erleben historischer Ereignisse. Damit hängt auch die Erklärung des Phänomens zusammen, wie es möglich war, dass verschiedene Alterskohorten unter verschiedenen Regimen in unangemessener Weise zu Prominenz gelangten, und auch wie die frühere Vergangenheit die spätere Gegenwart beeinflusste. Methodologische Fragestellung und vorgeschlagene Quellen Wenn ich vom Kernpunkt der Erfahrung ausgehe, dass sie im Unterschied zu den Wiederholungsstrukturen aus den Überraschungen entspringt,8 möchte ich mein Forschungsinteresse auf die so genannten Ego‐Dokumente richten. Weil sich die Erfahrung nicht nur auf den Moment der Überraschung beschränkt, sondern in einen Prozess ihrer Verarbeitung mündet, sind auch die Erinnerungsmaterialen aus 6
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Jaromír Mrňka: Generationsspezifische Grenz‐Erfahrungen
verschiedenen Teilen der erforschten Periode verwendbar. Hiermit lassen sich Be‐ ziehungen zwischen den individuellen Wahrnehmungen und seinerzeit dominan‐ ten Diskursen aufdecken und die Erklärung der Dynamik ihrer gegenseitigen dialek‐ tischen Beeinflussung präzisieren. Um relevante Quellen auswählen zu können, möchte ich mich auf öffentlich tätige Individuen konzentrieren, die in ihrer Zeit Träger gemeinsamer Werte waren. Vorläufig zähle ich darauf, dass in dieser Grup‐ pe gewisse berufliche Branchen (Anwälte, Richter, Angehörige der Streitkräfte, Journalisten, Politiker usw.) fallen. Aufgrund dieser Forschung möchte ich bedeut‐ same Kontinuitäten, Diskontinuitäten, Wandel und Wenden, sowie ihre Träger auf der Ebene der Wertorientierungen identifizieren und ihre kollektiven Porträts in Beziehung zum Rahmen der zeitspezifischen Erfahrungen skizzieren. Um den ganzen Prozess der Radikalisierung von Innen und Unten erklären zu können, stelle ich zumeist folgende Fragen: Welche unmittelbare historischen Fak‐ toren haben die Akteure für ausreichend zur Rechtfertigung der radikalen Hand‐ lung gehalten? Welche damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Werte und Bilder gingen von den unmittelbaren Erfahrungen der gesellschaftlichen Spaltung der 1930er Jahre aus? Welche Rolle hat in diesem Prozess die Gewalt gespielt, der die Akteure in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt waren? Und schließlich, wie hat sich die gesellschaftliche Radikalität im Zusammenhang mit der Konstituie‐ rung der kommunistischen Herrschaft verändert, vor allem in der Dynamik der po‐ litischen Schauprozesse, die in der Zeit der 1950er Jahren meiner Meinung nach der Höhepunkt des gesellschaftlichen Radikalismus waren. Weil ich alle diese Frage natürlich nicht nur aufgrund der Ego‐Dokumente beantworten kann, muss ich die vorläufigen Feststellungen mit den seinerzeit dominanten Diskursen konfrontieren, die mir helfen können, die strukturellen Elemente der Selbstinszenierung der Ak‐ teure aufzudecken. Deswegen ist mir auch die gleichzeitige Erforschung der Presse wichtig, wo ich die bedeutendsten gesamtgesellschaftlichen Bilder identifizieren und die Arbeitshypothesen kontinuierlich überprüfen kann. Literaturverzeichnis BRYANT, Ch.: Praha v černém. Praha: Argo, 2013. BRENNER, Ch.: Zwischen Ost und West. Tschechische politische Diskurse 1945‐1948. Mün‐ chen: Oldenbourg Verlag, 2009. FROMMER, B.: Národní očista. Retribuce v poválečném Československu. Praha: Academia, 2010. FULBROOK, M.: Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictator‐ ships. Oxford: OUP, 2011. HAVELKA, M.: Srovnávání nesrovnatelného aneb Existovala v nejnovějších českých dějinách epocha totalitarismu. In: Soudobé dějiny 16, 2009, č. 4, s. 607‐624. HEUMOS, P.: Strukturální prvky první Československé republiky. Politicko‐společenský systém, intermediární organizace a problém stability. In: Soudobé dějiny 2, 1995, č. 2‐3, s. 157‐ 168. JAIDE, W.: Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhun‐ derttrend. Zur Geschichte der Jugend in Deutschland 1871 bis 1985. Opladen: Leske und Budrich, 1988.
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Mgr. Jaromír Mrňka Institut für Wirtschafts‐ und Sozialgeschichte Philosophische Fakultät Karls‐Universität Prag nám. Jana Palacha 2 116 38 Praha 1 Tschechische Republik 5